Tugenden
Sind preußische Tugenden noch zeitgemäß?
von Minister Jörg Schönbohm
„Tugend“ ist hier das Hauptwort, „preußisch“ die Eigenschaft. Es geht also um die Frage nach der Zeitgemäßheit von Tugenden allgemein und – auf diesem Hintergrund – um die Frage nach der Zeitgemäßheit dessen, was uns die Geschichte an preußischen Tugenden überliefert hat.
Was sind eigentlich „Tugenden“ und was ist unter solchen preußischer Herkunft zu verstehen? Warum beschäftigen wir uns überhaupt mit den Tugendvorstellungen eines untergegangenen Staates?
Lassen Sie mich, bevor ich mich den Fragen im einzelnen stelle, einige Bemerkungen zu dem Staat machen, um den es hier geht. Madame de Stael sagte im Jahre 1810: „Preußen zeigt ein Doppelgesicht, wie der Januskopf: ein militärisches und ein philosophisches“. Der Historiker Heinrich von Treitschke stellte 1864 fest: „Dieser Staat mit all seinen Sünden hat alles wahrhaft Große getan, was seit dem Westfälischen Frieden im deutschen Staatsleben geschaffen ward, und er ist selber die größte politische Tat“.
Preußen gegen den Zeitgeist
In einem Ultimatum der Entente-Mächte in Versailles heißt es 1919: „Die ganze preußische Geschichte ist durch den Geist der Beherrschung, des Angriffs und des Krieges charakterisiert“. Meine Damen und Herren, für den Untergang Preußens gibt es erkennbare Ursachen. In seiner aristokratischen Prägung passte er nicht mehr in das
Zeitalter der nationalen Einigungsbewegungen, der heraufbrechenden Demokratie und des Pluralismus. Vom Glauben an das „Königtum von Gottes Gnaden“ zur Volkssouveränität und zu demokratischen Mehrheitsprinzipien lassen sich nur schwer Brücken schlagen. Infolgedessen wehte der Zeitgeist seither zunehmend aus einer anderen Richtung.
Ultimo ratio regis
Heute, da der preußische Staat von der Landkarte Europas verschwunden ist, haben wir die Möglichkeit, die klassischen Tugenden dieses Staates ebenso unbefangen wie kritisch zu würdigen: Als preußische Tugenden gelten unter anderm: Pflichtbewusstsein, Unbestechlichkeit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Haltung, Ehre, Ordnungssinn, Bildung, religiöse Toleranz, gerechte Justiz. Dieser – manche sagen – Militär- und Beamtenstaat konnte durchaus vorzügliche Leistungen aufweisen. Vielleicht ist auch deshalb die Neigung seiner Untertanen zur kritiklosen Unterordnung befördert worden. Auch Gutes kann sich unheilvoll auswirken. Preußen hatte eine leistungsfähige Armee, die sich allerdings im vergangenen Jahrhundert nicht in die Gesellschaft integrierte. Gleichwohl wirkte sie ihrerseits nachhaltig auf das gesellschaftliche Bewusstsein. Stand die Armee noch 1806 an der Spitze des Fortschritts, so entwickelte sie sich zum Ende des Jahrhunderts hin stärker zum Militarismus. Dennoch müssen wir eines ganz klar festhalten: Preußen hat von allen bedeutsamen europäischen Staaten die wenigsten Kriege geführt. Es war nicht die zentrale Brutstätte des Militarismus; dies wäre eine geschichtsferne Legende. Lassen Sie mich das kurz begründen: An allen zwischen 1701, dem Krönungsjahr Friedrichs des I. und 1933, dem Ende der Weimarer Republik, geführten Kriegen sind europäische Staaten wie folgt beteiligt gewesen:
• Frankreich mit 28%,
• England mit 23%,
• Russland mit 21% und:
• Preußen mit 8%.
Kein preußischer König kann – auch nur von fern – mit Ludwig XIV. oder Napoleon I. verglichen werden. Nicht zufällig schrieb die
Maßlosigkeit der Ansprüche und protziges Auf-treten wurden in Preußen verabscheut. Wilhelm der II. machte hierbei jedoch eine unrühmliche Ausnahme. Bis zur Zerstörung des Preußentums durch die Nationalsozialistische Ideologie und das Inferno des Zweiten Weltkrieges galten diese Wertmaßstäbe und bestimmten die innere Haltung vieler Menschen. Mit dem Staat Preußen verband sich die Idee des Dienens, eine Idee durch die Menschen gebunden und in die Gesellschaft eingebunden werden konnten. Der preußische Staat ist tot – aber nicht die Ideen, die ihn trugen. Vielleicht können Menschen auch heute von Idealen gebunden werden, die Preußen kultiviert hat. Ihrem Wesen nach können dies nur solche sein, die unabhängig von der damaligen Staatsform und ihren Zeit- bedingtheiten Geltung haben. Allgemein ist unter Tugend eine durch Handeln erworbene Fähigkeit zu verstehen, das sittlich Gute zu tun. Ethisch zu unterscheiden sind hierbei Verstandestugenden, wie Weisheit und Klugheit von Willenstugenden, wie Tapferkeit und Mäßigung. Das „sittlich Gute“ ist – zumindest in gewisser Weise – abhängig von den zeitbedingten Wertvorstellungen eines Volkes. Dennoch gibt es einen Kern der Bestand hat. Danach ist das „sittlich Gute“ dasjenige, was das Glück vermehrt und das Leid mindert; wobei zu berücksichtigen ist, dass das wirkliche Glück der Einzelne nie auf Kosten der Gemeinschaft und jene nie zu Lasten des Einzelnen erreichen kann: Es muss stets einen Ausgleich zwischen den Anliegen des Individuums und der Gesellschaft geben.
Vor diesem Hintergrund sind preußischen Ideale, oder – wenn man so will Tugenden – heute aktuell:
• Redlichkeit
• Aufrichtigkeit
• Bescheidenheit
• Bildung
• Sparsamkeit
• Pflichtbewusstsein
• Ordnungssinn
• Treue
• Mut
• Leistungsbereitschaft
Heute spüren wir in unserem Land zunehmend die negativen Folgen der Massen- und Wohlstandsgesellschaft. Der gesellschaftliche Reichtum bröckelt: Von den ökologischen Proble-men über die Arbeitslosigkeit bis hin zur neuen Armut. Vom Egoismus bis zum Verfall des Wert- und Rechtsbewusstseins. An preußische Ideale in tugendhafter Absicht anzuknüpfen kann heißen, diesen Erscheinungen entgegenzuwirken und einen Neuanfang zu beginnen.
Eine Idee für Deutschland
Heute muss es darum gehen, die Menschen wieder stärker auf ein überindividuelles, am Gemeinwohl orientiertes Ethos zu beziehen. Das Glück der Einzelnen ist nur vollständig, wenn sie über sich selbst hinausgehoben werden und ihnen das Schicksal der anderen nicht gleichgültig ist: Wir brauchen auch heute eine Idee von Deutschland, vom Dienst an der Gemeinschaft, die die Herzen höherschlagen lässt. Nation, Demokratie, kulturelles Bewusstsein sowie die sich damit verbindenden Grundwerte müssen stärker in ihrem Wert erkannt und bewusst gemacht werden.
Die preußische Idee hat, wie der Geisteswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps gesagt hat, „nichts Rauschhaftes“ in sich, denn „über dem Preußentum lacht nicht die Sonne des Südens, sondern es ist stets in die rauhe Luft der Pflichterfüllung eingetaucht gewesen“. Daher wird es im vereinten Deutschland – der Berliner Republik – die nicht nur östlicher geworden ist, als die Bonner, sondern auch protestantischer und leider auch atheistischer, künftig darauf ankommen, die positiven Werte Preußens zu kultivieren.
Zwang zur Bewährung
Über dem Preußen stand der Zwang zur Leistung als sittliche Bewährungsprobe. Dies galt gerade auch für den Staatsdienst. Mit ihm aber war immer auch ein Stück Selbstverleugnung verbunden. Dies gehört zu den preußischen Eigenschaften, für die heute kein Platz mehr ist. Aber dennoch: Loyalität, Einsatzbereitschaft und Leistungsbewusstsein sind – in unsere Zeit übersetzt – die Eigen-schaften, die wir im öffentlichen Dienst auch und besonders heute brauchen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind die Territorien des ehemaligen Staates Preußen zwischen Russland, Polen und Deutschland geteilt. Preußen ist heute stumm, eine allenfalls geistige Macht. Die Kernlande Berlin und Brandenburg hatten am 5. Mai 1996 nicht die Kraft, ein gemeinsames Bundesland zu schaffen. Dies ist auch ein beklagenswerter Beleg dafür, dass wir zwischen Elbe und Oder noch immer in einem Bewusstseinstief leben. Unsere historischen Wurzeln scheinen abgeschnitten.
Das Datum, an dem sich das positive Preußen noch einmal gewaltig erhob, ist der 20. Juli 1944. Der Ver-such, in letzter Stunde den Aufstand gegen den Tyrannen zu wagen. Es war die Charaktertat von einzelnen; sie handelten jedoch in preußischem Geist und aus christlicher Verantwortung. Vor dem Hintergrund ihrer Tat gewinnt das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche eine besondere und tiefere Bedeutung: „Üb“ immer Treu und Redlichkeit“. Viele klangvolle Familiennamen Preußens finden sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Stauffenberg und Tresckow, Yorck und Moltke, Witzleben und Schulenburg, Schwerin und Stülpnagel sowie zahlreiche andere aristokratischer und bürgerlicher Herkunft. Aber auch sie, über deren Tat wir dankbar sind, haben lange gezögert: Glanz und Versagen, Licht und Schatten liegen in der preußischen Geschichte ebenso nebeneinander, wie in jener anderer Staaten. Wir können heute daraus lernen und bewusst an das positive Ethos anknüpfen.
Die Aktualität preußischer Tugenden wird augenfällig, wenn wir nach ihrer Negation fragen: Statt Pflicht – Pflichtvergessenheit? Statt Ehre - Ehrlosigkeit? Statt Bescheidenheit – Übermaß? Statt Treue – Untreue? Statt Haltung – Haltlosigkeit? Statt Leistung – Erlahmung der Kräfte? Statt Sparsamkeit – Übermaß? Statt Ordnung – Unordnung? Statt Bildung – Oberflächlichkeit? Das kann nicht sein. Ich denke, wir müssen heute aufpassen, dass wir nicht vor lauter Sorge vor den negativen Aspekten preußischer Tradition das „Kind mit dem Bade ausschütten“ und ins Gegenteil verfallen.
Tugenden sind missbrauchsfähig
Die Tatsache, dass auf der Klinge der SS der Satz: „Unsere Ehre heißt Treue“ stand, heißt nicht, dass „Ehre“ und „Treue“ damit für uns keine Bedeutung mehr haben dürfen. Jene Ideale wurden zum Werkzeug einer verbrecherischen und menschenverachtenden Ideologie. Unsere geschichtliche Erfahrung, dass sich Tugenden durchaus als
missbrauchsfähig erweisen bedeutet nicht, dass sie in ihrem Wesensgehalt schlecht sind. Es kommt darauf an, dass wir uns ihnen mit Bedachtheit nähern.
Wir sind gut beraten, wenn wir uns in der Frage der Tugenden an dem griechischen Philosophen Aristoteles orientieren, der das nachdenkliche Abwägen selbst zu einer Tugend erhebt. Demnach ist der tugendhafte Weg gewissermaßen jener der Mitte. Es kommt auf das rechte Maß an. Bei Aristoteles heißt es zu den Tugenden „Tapferkeit“ und „Besonnenheit“: „Wer alles ... fürchtet und nichts aushält, der wird feige, wer aber vor gar nichts Angst hat, sondern auf alles losgeht, der wird tollkühn; und wer jede Lust auskostet und sich keiner enthält, wird zügellos, wer aber alle Lust meidet, wird stumpf wie ein Tölpel. So gehen Besonnenheit und Tapferkeit durch Übermaß und Mangel zugrunde, werden aber durch das mittlere Maß bewahrt“.
Tugenden sind, ebenso wie Macht, ein Mittel und kein Selbstzweck; es stellt sich immer die Frage, wozu man sie nutzt. Die preußischen Tugenden waren auf das Königtum und den damaligen Staat hin orientiert – beides besteht nicht mehr. Darum ist stets zu fragen: Ordnung? ja, natürlich – aber wofür?
Pflicht? ja, bitte – aber auf was hin orientiert sie sich? Dient sie dem König von Preußen, Adolf Hitler, Walter Ulbricht – oder der deutschen Demokratie unserer Tage. Die Frage nach den vorrangigen Werten und nach den Zielen denen sie dienen, muß daher stets beantwortet werden. Unser Grundgesetz gibt darauf eine eindeutige Antwort: Artikel l GG gibt den Rahmen vor: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. In ihm verkörpern sich auch preußische-deutsche Traditionen wie auch Tugenden, die über unsere nationale Kultur hinausreichen. Unsere Demokratie ist auf Dauer nur lebensfähig, wenn sich die Menschen, die sie ausmachen, nicht am Egoismus, sondern am Gemeinwohl orientieren. Was haben Grundwerte, was Menschenwürde oder Toleranz, was Freiheit oder Frieden für einen Sinn, wenn sich niemand davon in die Pflicht nehmen lässt? In die Pflicht nehmen lassen heißt: Handeln.
Aristoteles hat festgestellt: „Mit Recht wird ... gesagt, dass der Gerechte durch das gerechte Handeln entsteht und der Besonnene durch das Besonnene. Ohne zu handeln, dürfte wohl keiner jemals tugendhaft werden“. Genau dafür brauchen wir den Dienst an unserer Gesellschaft und unserem Staat.
Aristoteles führt weiter aus: „Im Bereich der Tugend geschieht etwas nicht schon dann auf gerechte und besonnene Weise, wenn die Tat sich irgendwie verhält, sondern erst wenn auch der Handelnde in einer entsprechenden Verfassung handelt: erstens wissentlich, dann auf Grundeiner Entscheidung, und zwar einer solchen um der Sache Willen, und drittens, wenn er im Handeln sicher und ohne Wanken ist“.
Freiheit ist die erste Bedingung
Dies setzt nicht nur Engagement, sondern auch Persönlichkeit und Charakter voraus. Ich habe die Hoffnung, dass die so beschriebene Tugendhaftigkeit in unserer Demokratie – bei allen Unzulänglichkeiten unserer Gesellschaft – gerade durch den Pluralismus der Meinungen und durch die Kraft zur Entscheidung, vor allem aber durch unsere Freiheit zum Diskurs, befördert wird. Denn die Freiheit ist die Grundlage all dessen, was wir schaffen können.
Lassen Sie mich – in diesem Sinne – zum Abschluss den Preußen Wilhelm von Humboldt zitieren, der im Jahre 1792 notierte: „Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung“.
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